Dreifachkrise vor 200 Jahren: Wetterextreme, Krieg und Seuchen

Dreifachkrise vor 200 Jahren: Wetterextreme, Krieg und Seuchen Entfernte Vulkane und nasse Kälte in Stuer

Entfernte Vulkane und nasse Kälte in Stuer

1. Zwei Dörfer- zehntausende Kilometer voneinander entfernt

2. Zu dicht dran- zu weit weg

3. LEUEs Wetterbeobachtungen vor und nach 1816-Die „Kleine Eiszeit“

4. Die Auswirkungen und Folgerungen einer Mehrfachkrise

5. 200 Jahre nach LEUE

6. Zusammenfassung

7. Quellen und Literatur

1. Zwei Dörfer- zehntausende Kilometer voneinander entfernt

Stuer/ Mecklenburg 1815/16/17

Pastor LEUE betrachtete den Schimmel an seinen reifen Ähren, die noch auf dem Halm standen. Nachdem fremde oder verbündete Kriegstruppen, zuletzt bewachte Gefangenenverbände, inzwischen nicht mehr durch das Dorf ziehen konnten, ahnte er neues Ungemach. Es gab ihm Zuversicht, dass die französischen Eroberer Europas vertrieben worden waren. Doch nun hatte er im Jahr 1815 extreme Wetterereignisse registriert: „Es regnete vom Frühjahr bis Ausgangs August entsetzlich viel, besonders zur Zeit der Erndte.“ (1)
LEUE war als Landpfarrer auf Abgaben der Gemeindemitglieder, Erzeugnisse vom Pfarracker und aus seinem Garten direkt angewiesen. Er kaufte auch dazu und handelte selbst mit Teilen seiner Ernten. Deshalb beobachtete er die Wetterereignisse, machte sich allgemeine, meist nachträgliche Aufzeichnungen und registrierte als Zeitungsleser Preise. Im folgenden Frühjahr hatte er notiert:
„Der Winter 1815-16 zeichnete sich durch die entsetzliche, widerliche, unbeständige und feuchte Witterung aus, so wie das Frühjahr anhaltend kalte, unfreundliche und regnerische Tage, weit mehr als heitere und trockene zählte. Auch wechselte die Temperatur der Luft darin, ebenso wie im Winter, fast an jedem Tag mehrmals. Am 24ten May heizte man hier noch ein.“
„. . .dann fing es immer wieder an aus NO, O und N . . . zu brausen und zu regnen, und ganze Tage in einem fort. . . die meiste Zeit des Winters und Frühjahrs stand“ das Barometer unveränderlich auf Regen und Wind.
Auch die Gartensträucher und das Gras auf den Viehweiden blieb sehr zurück. Das Korn stieg im Preise . . . Die Bäume hatten gewaltig viel Blütenknospen, die Witterung war aber zur Blütezeit sehr ungünstig, und sie blieb bis Mitte des Augusts regnerisch.“

Siegel G.Leue,Pfarrer v. Stuer
Siegel von Pastor G.Leue (2)

Aus der Zeitung erfuhr der Pastor auch über extreme Witterung andernorts und ihre ungleiche geografische Verteilung:
„Und so wie sie hier war, war sie im ganzen südlichen und westlichen Europa. Nur in Rußland herrschte bis in die Mitte des Juli eine große Dürre.“
„In ganz Europa, Rußland ausgenommen, klagte man über Misswuchs, besonders in dem südlichen Deutschland und in Frankreich. In dem Rheingau war die ganze Erndte so gut als gänzlich verloren, weil das Wasser alle Felder verwüstet hatte. In manchen Gegenden sind die Leute auf ihrem Saatfelde mit Kähnen umhergefahren, um die Ähren wenigstens abzuschneiden.
Von solcher allgemeinen Brodtnoth und so vielerlei Nachfrage nach Korn hatten wir seit 1805 und 1806 hier unsererseits nichts gehört und gelesen.“
In Mecklenburg hatte er registriert:
„. . wegen des schlechten Lohnens des Kornes . . . stieg es gleich nach der Erndte im Preise und blieb es auch gegen Antoni (6.Mai)1817 im steigen, obgleich sonst die Preise gegen diesen Zahlungstermin zu fallen pflegen.“ „Obst war fast gar nicht für Geld zu haben. Es war nichts und wurd auch nicht reif.“ „An dem schlechten Ausfall der Korn- und Obsterndte war bloß die naßkalte Witterung Schuld, so wie sie es auch an dem gänzlichen Mißrathen der Weinlese in diesem Jahr gewesen.“

Nach einem milden Winter war die Witterung „fast beständig verregnet, windig und stürmisch. In der stillen Woche vor Ostern ward sie heiter und mild; aber gleich nach Ostern erhob sich der brausende Wind wieder und Frost und Kälte und es fror beynahe alle Nacht recht stark. . . . Felder und Wiesen waren am 30ten April noch alle weiß, . . noch ließ sich an diesem Tage eine Schwalbe sehen,. . . in den Gärten lief keine Art von Samen auf . . . Schafe starben in diesem Frühjahr . . . sehr viel.“

LEUE hatte sich die beobachteten Wetterextreme so erklärt:
Als Zeitungsleser und Pragmatiker hatte er sich über die Ursachen beobachteter Wetterextreme Gedanken gemacht. Schon 1811 hatte er ein für viele Zeitgenossen unheimlich wirkendes Ereignis so erklärt: „Der große Comet den wir in diesem Jahre von der Mitte des August´s bis Ausgangs December bey heiteren Abenden strahlen sahen, . . . war (vielleicht) an der außerordentlichen Dürre Schuld, die wir in diesem Jahre hatte, indem er bei seiner Annäherung zur Erde, unserer Atmosphäre viele Dämpfe entzog. Dieser Meinung war wenigstens ich zugetan, obgleich mehrere Astronomen in ihren Bemerkungen über ihn nichts davon erwähnten.“

Den „unerhörten Fall, daß es an Schnee und Eis“ in Schweden und Rußland fehlte, dagegen in Südeuropa wie auch in Südamerika große Kälte herrschte, erklärte er sich dann später 1822 so:
„Die Physiker leiten diese Erscheinung von der ungleichen Verteilung der inneren eigenthümlichen Erdwärme her, welche sich in diesem Winter mehr nach Norden gezogen hatte, und da der Oberfläche näher gewesen wäre. Sie sey, meinten sie, ein neuer Beweis für das Dasein der Erdwärme, wahrscheinlich eines beständig fortdauernden, unterirdischen galvanisch-chermischen Processes, welcher das eine Mal lebhafter, das andere Mal schwächer sey, bald mehr jener, bald mehr einer anderen Gegend der Erdoberfläche sich nähern kann, und von welcher ja auch allein die vulkanischen Ausbrüche und die heißen Quellen abzuleiten sind. Was dieser Meinung nach größter Beweiskraft gibt, sind die vielen Erdbeben, Stürme und Meteore, welche ja ebenfalls Producte elektrisch- galvanischer Processe sind, die es in diesem Winter gab.- Hier bei uns war fast den ganzen Winter hindurch täglich heftiger Wind oder Sturm, so daß sich alle Leute darüber wunderten und beschwerten.“
Hier sei daran erinnert, dass die Wetterkunde als Teilbereich der Geowissenschaften noch heute Meteorologie heißt (altgriechisch: „Untersuchung der überirdischen Dinge bzw. der Himmelskörper“).

Tambora auf Sumbawa, Indonesien, 5.-17. April 1815

Auf dieser tropischen Insel liefen Dorfbewohner wieder einmal beunruhigt zusammen und sahen, wie aus dem Gipfel des 4300 m hohen Tambora Rauch und Asche aufstiegen. Dies war dann schließlich von einer ohrenbetäubenden Explosion der Bergkuppe abgelöst worden, die eine riesige Feuersäule in den Himmel geschickt hatte. Gewaltige Brocken glühenden Gesteins folgten, eine schnelle Gas-Staub-Explosion raste den Berghang hinunter, wo sie Pflanzen, Gebäude, Tiere und Menschen verbrannte und anschließend unter Schlammlawinen begrub. Das Dorf Tambora und weitere Dörfer verschwanden, mit ihnen sechs Fürstentümer.
Die Explosionen sollen noch 2500 km entfernt zu hören gewesen sein.
Der Berg verlor ein Drittel seiner Höhe und hatte in der Folge einen 7 km breiten und über 1000m tiefen Krater. Abstürze ins Meer hatten auch Flutwellen in Richtung benachbarter Inseln ausgelöst.

Es soll etwa Zehntausende direkte und noch mehr spätere Todesopfer gegeben haben. Es folgte eine Massenabwanderung in die nähere Umgebung, z.B nach Bali, Java, Kalimantan. Auch dort hatten die Flüchtlinge dann mit Hunger und Krankheiten zu tun, weil das Trinkwasser vergiftet und die Ernte unter einer dicken Schicht Asche vernichtet war.
Nach vielen Jahren erwies sich diese dann allerdings als fruchtbare Erde.

Topographie des Tambora und seiner Umgebung
Topographie des Tambora und seiner Umgebung (3)

Die Rauchsäule aus Staub und Schwefelverbindungen hatte eine Höhe von bis zu 43 Kilometern. In den folgenden Monaten hatte sie sich mit den globalen Passat-Luftströmungen wie ein Nebelschleier ungleichmäßig über die gesamte Erde verteilt. Die Schwefelgase wandelten sich zu Sulfat-Aerosolen. Dadurch verminderten sie in der Stratosphäre einen Teil der Sonneneinstrahlung, was sich auf der Erdoberfläche als zeitweise weltweite Abkühlung von durchschnittlich 2-4°C auswirkte.
Der Kohlendioxid-Anteil von solchen vulkanischen Ausbrüchen soll dagegen vergleichsweise gering sein. (4)

Prinzip der Tambora Explosion von 1815
Prinzip der Tambora Explosion von 1815 (5)

Der Tambora-Ausbruch zwischen dem 5. und 17. April 1815 wird als der stärkste explosive Vulkanausbruch mindestens der letzten Jahrhunderte bezeichnet. Er hatte die Stärke 7 von 8 im Index der Vulkanexplosivität. Die darauf folgende Wetterereignisse wurden als extrem wahrgenommen. Sie hatten weltweit unterschiedliche Ausprägungen und waren ungleich verteilt. Das Jahr 1816 ging inzwischen mit dem Markennamen „Jahr ohne Sommer“ in die Kulturgeschichte ein. Die Sonnenwärme abschirmende Wirkung der Aerosole ließ nach 1-3 Jahren nach. Die durchschnittliche Temperatur pegelte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts in die schon länger andauernde leichte Erwärmungsperiode ein.

2. Zu dicht dran- zu weit weg

Pastor LEUE hatte an die Wirkung von Kometen oder eine ungleiche Verteilung der Erdkernwärme, nicht aber an eine göttliche Strafaktion für kollektive Sünden gedacht. Ein Zusammenhang dieses Vulkanausbruchs mit weltweit starken Wettereignissen blieb den Zeitgenossen jedoch noch verborgen. So auch Goethe, der als Universalist selbst naturwissenschaftliche und Wetterstudien betrieb und mit Wissenschaftlern im Austausch war. Er hatte damals wegen extremer Wetterereignisse eine Reise per Kutsche abbrechen müssen. Auch las Goethe “in seiner Morgenzeitung, Cottas Morgenblatt für die gebildeten Stände, über den Ausbruch des Tambora, wenn auch mit einiger zeitlicher Verspätung, so doch auf dem Höhepunkt der Krise.“(6)
Der kolossale Vulkanausbruch war im Prinzip also bekannt, zumal solche Ereignisse zu jener Zeit ein Modethema waren. So reisten begüterte Bildungsreisende zum Vesuv, der zwischen 1770 und 1830 immer wieder mal aktiv war.
Ein Schleier in der Atmosphäre, der als „Höhenrauch“ bezeichnet wurde und von interessanten Farbphänomenen begleitet sein konnte, war bei Goethe ab 1817 Gegenstand systematischer Beobachtungen. Als Staatsminister erließ er dazu Anweisungen für die Beobachtung bei den Großherzoglich meteorologischen Anstalten.
Erst hundert Jahre später konnte der amerikanische Atmosphärenphysiker W.J.Humphrey (1862-1949) den oben beschriebenen Zusammenhang zwischen Vulkanausbruch und der Auswirkung auf das Weltklima nachweisen und erklären.

3. LEUEs Wetter-Beobachtungen vor und nach 1816 – Die „Kleine Eiszeit“

Pastor LEUE, der die Wetterlagen aus eigenem Interesse genau beobachtet hatte, konnte schon vor den Jahren 1815/16 Extreme feststellen, die sich in seiner Wahrnehmung gehäuft hatten.
So berichtete er bereits 1804 von einem „Mißwachsjahr“, 1805 von der „Noth für Menschen und Vieh“ wegen feuchter und kalter Witterung, 1809 von „Hagelkörnern . . . so groß wie Haselnüsse,“ 1810 von ungewöhnlicher Kälte in Frühjahr und Sommer, diese „dauerte ununterbrochen bis in die Mitte des Juni fort, so daß es noch am 1ten Juni Eis fror.“
Frühem Nachtfrost Anfang September folgte in diesem Jahr „eine der anhaltendsten Dürren, die ich je erlebt hatte.“ Das Vieh litt, „die meisten Sölle ausgetrocknet, und es fehlte sogar vielen Bäumen an Wasser“. Nachtfröste Anfang Oktober ließen dann das Obst auf den Bäumen erfrieren.
Wogegen LEUE aus der Zeitung erfahren hatte, dass man man in Oberitalien klage „über die Verwüstungen, welche durch Überschwemmungen der Flüsse verursacht wurde. Bey Menschengedenken erinnerte man sich daselbst keiner so nassen Herbstwitterung.“

Hitze und Dürre blieben 1811 erhalten, mit der Folge ausgetrockneter Sölle, Gewittern mit Hagelschlag, verbunden mit Bränden. 1813 stellte LEUE heftigen Sturm fest, wie seit mehreren Jahren nicht. Große Mengen Schnee bis Ende März und bis Mitte Juni Frost, so dass die Knospen erfroren, folgten dann im Jahr 1814.

Und nach der Tambora-Krise:

Nach der sonnenarmen feuchten Phase kam dann 1818/19 wieder Trockenheit: „Der Sommer von 1819 übertraf an Hitze und anhaltender Dürre noch den von 1811. Die Weiden verbrannten gänzlich und das Vieh litt große Noth, auch an Wasser, denn Sölle, die seit Schöpfung der Welt Wasser gehabt hatten, trockneten gänzlich aus“ und konnten sich erst 1822 wieder füllen, wie auch die „tief ausgetrocknete Erde“.
Wegen lang anhaltendem Frost und dürrer Weide 1823, was Futtermangel mit Viehverlust bedeutete, blieb die Dürre im Jahr 1824, worauf dann wiederum „ein entsetzlich nasser Herbst und Winter“ folgte.
Das normale Auf und Ab des Wetters war, folgt man LEUE, erkennbar heftig geworden. Kam Trockenheit, war es zeitlich anhaltend trocken. Regnete es, war es Starkregen. Auch jahreszeitlich hatten sich erwartbare Verhältnisse verschoben.

„Kleine Eiszeit“
Wenn die knappen Klimabeobachtungen von LEUE im kleinen Dorf Stuer nicht übertrieben und zu subjektiv waren, wäre die Ursachenfixierung einzig auf dieses Tamboraereignis 1815 nicht plausibel. So direkt münden die Wechselwirkungen beim teils chaotisch ablaufenden Komplex Klima nicht in eindeutige und leicht fassliche Auswirkungen.
Wie dann auch mit zeitlichem Abstand festgestellt werden konnte, waren die krisenhaften Wetterereignisse in jener Zeit nicht einzig die Folge nur dieses einen ungewöhnlich heftigen Vulkanausbruchs. Dieses Ereignis war neuzeitlich einfach besser registriert und dokumentiert worden. Es war nur ein wichtiges Glied einer weltweiten längeren Serie. Dazu hatte der Ausbruch des Laki auf Island 1783 und eines anderen Vulkans im Jahr 1808 gehört, der bisher nicht eindeutig lokalisiert werden konnte.

Rekonstruierter vulkanischer Strahlungsantrieb der letzten 2500 Jahre
Globaler Strahlungsantrieb durch vulkanische Aerosole 500 v.u.U- 2000 n.u.Z. (7)

Aber auch diese relativ dicht beieinander liegenden Ereignissen ergeben noch nicht das ganze Bild. Das zeigen inzwischen verfeinerte Messverfahren zur Ermittlung längst vergangener Wetter- und Klimaereignisse. Diese Zeit vor und nach der Jahrhundertwende um 1800 war nur die Endphase einer etwas längeren Abkühlungsphase in der jüngeren Klimageschichte. Nach Ausgang der mittelalterlichen Warmzeit war ab Mitte des 15. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jh. die sogenannte „Kleine Eiszeit“ gefolgt. Diese kühlere Phase ergab sich aus:
vulkanischen Aktivitäten,
einer etwas verringerten Sonneneinstrahlung (0,1%) und
einer leicht veränderten Neigung der Erdachse zur Sonne.
Durch deren Zusammenwirken und Rückkopplungen auf Vegetation und Golfstrom wird diese Phase bisher erklärt.

Temperaturverlauf der letzten 1000 Jahre, rekonstruiert aus verschiedenen Quellen. Die rote Linie markiert den rekonstruierten Verlauf in der nördlichen Hemisphäre.
Temperaturverlauf der letzten 1000 Jahre, rekonstruiert aus verschiedenen Quellen. Die rote Linie markiert den rekonstruierten Verlauf in der nördlichen Hemisphäre. Der schwarze Anstieg rechts ist instrumentell gemessen. (8)

Die im Zeitverlauf kürzer und längerfristigen periodischen Schwankungen der Sonnenaktivität (gleich Strahlungsintensität) decken sich im Prinzip mit dem mittleren Temperaturverlauf auf der Erde.
Ausnahme sind die letzten gegenwärtigen Jahrzehnte- danach müßte bzw. könnte es ohne die von uns in den letzten Jahrzehnten bewirkte Aufheizung jetzt kühler sein! (9)

4. Die Auswirkungen und Folgerungen einer Mehrfachkrise

Aus den gesamten Aufzeichnungen von Pastor LEUE (1760- 1832) aus den Jahren 1800 bis 1824 ergibt sich die Dokumentation eines komplexen Krisengemischs, deren einzelne Bestandteile miteinander verbunden sein dürften und sich vermutlich gegenseitig verstärkt hatten:
-Extreme Wetter-/ Klimaereignisse (1804 bis 1824),
Kriegsereignisse, verbunden auch mit Handelsbeschränkungen (1806 bis 1813),
-Epidemien und Pandemien in Abständen (nach LEUE 1802 und 1824 Pocken, Cholera in den Folgejahren).
All diese Ereignisse hatten durch Hungerkrisen und Verarmung auch Folgen für die gesundheitliche Widerstandsfähigkeit der Menschen und wirkte sich verunsichernd auf die Bevölkerung aus.
Eine Darstellung der zu jener Zeit stattfindenden Seuchen und Pandemien im Dorf, hier zur Vermeidung von zu großer Unübersichtlichkeit ausgegliedert, kann hier abgerufen werden: Epidemien, Einschränkungen, Impfpflicht – Stuer/ Mecklenburg vor 200 Jahren – Stuer-Archiv

Dokumentierte Begebenheiten im Zusammenhang mit den damaligen Kriegshandlungen, sollen später auf einer eigenen Seite dargestellt werden. Nur soviel: Nach seiner Aussage hatte Pastor LEUE, um Schaden abzuwenden, pragmatisch und scheinbar furchtlos vermittelt- zwischen gelegentlich auch zu Plünderungen neigenden Soldaten und der Dorfbevölkerung.

Volkszählungsliste vom Oktober 1819 zum Haushalt von Pastor Leue
Volkszählungsliste vom Oktober 1819 zum Haushalt Leue, in welcher der Pastor und seine drei Töchter aufgeführt waren. Seine Frau war im Jahr vorher verstorben, sein 1804 geborener Sohn und nach 1832 Nachfolger war nicht vor Ort.
Dazu wurde ein 20 jähriger Knecht und eine 20 jähriges Dienstmädchen registriert (10)

Meist klagte Pastor LEUE nur über die Lage seiner eigenen, doch halbwegs bevorrechteten Familie. Die Auswirkungen der Krise auf die Dorfbevölkerung wird von ihm selten beschrieben:
„…die Jahre 1800, 1801 und 1802 waren für Mecklenburg im Ganzen sehr glückliche Jahre. Erwuchs viel Korn, und dies stand hoch im Preise, weil es viel Absatz im Auslande fand.. . . Hier in den Gütern hatten im Ganzen die Leute keine Not, weil sie immer vollauf zu thun hatten, und das Korn zu einem mäßigen Preis bekamen.“
Erst 1823, nach Zollerhebung Mecklenburgs gegenüber Preußen, kommt er wieder dazu:
„Futtermangel, fehlender Absatz und ungeheure Geldnoth“
„Es gingen daher auch viele Pächter und Bauern zu Grunde: Die hiesigen Bauern hatten schon um Fastnacht kein Brotkorn mehr. Auch Tagelöhner hatten bey aller Wahrscheinlichkeit und in Folge des schlechten Ausfalls der vorjährigen Erndte große Noth“    

„ . . . wieder Wassernoth, . . . Verluste unter dem Vieh, Ernte aber gut, schlechtere Preise.“ „Es verarmten also auch in diesem Jahr wieder viele Landleute. (1824, wieder Pocken . . . !)

Reaktion der Gesellschaft und der Mecklenburgischen Regierung
Die Witterungs- und Klimaschwankungen hatten sich auf die Nahrungsmittelproduktion ausgewirkt. Mangelernährung beförderte Seuchen, Teuerungen führten zu sozialen Spannungen, auch die Kriminalität stieg an,
Bettler zogen übers Land, Grenz- und Zollfragen wurden aktuell ,
Gesetze zu Armen- oder Arbeitshäusern wurden erlassen.

Die Großherzogliche Regierung hatte deshalb zeitversetzt, also im Jahr 1817 folgende Anweisungen erlassen und im „Grossherzoglich Mecklenburg-Schwerinisches officielles Wochenblatt“ veröffentlicht (11):

Maßnahme zur Vorratshaltung von Korn im Februar:

Maßnahme zur vorratshaltung von Korn,17.2.1817

Maßnahme zur Vorratshaltung von Korn,17.2.1817
Maßnahme zur Vorratshaltung von Korn,17.2.1817

Regeln zur Aufnahme in ein Arbeitshaus (12) im April:

Regeln zur Aufnahme in ein Arbeitshaus, 5.4.1817
Regeln zur Aufnahme in ein Arbeitshaus, 5.4.1817

Maßnahmen gegen Wucher und Korruption durch Vermögende in Juni:

Maßnahmen gegen Wucher, 28.6.1817

Maßnahmen gegen Wucher, 28.6.1817
Maßnahmen gegen Wucher, 28.6.1817

Verfügungung zu Zurück- und Ausweisungen von Flüchtlingen im Juli:

18.7.1817-Zurück- und Ausweisungen
Zurück- und Ausweisungen, 18.7.1817

Ob es auch in Mecklenburg wie andernorts zu religiösem Extremismus, teilweise Visionen eines bevorstehenden Weltuntergangs, oder der Suche nach Sündenböcken oder tatsächlichen Wucherern kam, geht jedenfalls aus LEUEs Aufzeichnungen nicht hervor.
Jedenfalls hatte die Großherzogliche Regierung in der Arbeitshaus- Reglementierung ausdrücklich die Nichtdiskreminierung von Juden angewiesen:

Passage über Nichtdiskriminierung von Juden in der Arbeitshausverordnung
Passage über Nichtdiskriminierung von Juden in der Arbeitshausverordnung, 5.4.1817

Die Zeit in der Ereigniskette nach der Französischen Revolution, der napoleonische Eroberungsversuch von Europa, der folgenden Befreiungskrieg und der Wiener Kongress war gekennzeichnet durch große Umbrüche, die den Kontinent in der Folge weitgehend umgestalten sollten.

Durch die Verknüpfung von Sozial- und Naturwissenschaften können wir heute besser erkennen, wie sich klimatische Großereignisse auswirken können. Als auslösende Faktoren in historischen Phasen wirken sie mehr oder weniger zeitlich versetzt auch auf Nahrungsproduktion, Handel, Gesundheit, die politischen Verhältnisse und ihre Institutionen und auch auf die Psyche der Bevölkerung.
Auch dann, wenn dies deshalb nicht erkannt oder sogar abgestritten wird.
Es wird davon ausgegangen, dass dies zum Untergang früherer Großreiche und Kulturen, teils auch kriegsentscheidend, beigetragen hatte.

Wie bei abklingenden Krisen üblich, hatten sich nach offenbar gewordenen Unzulänglichkeiten enorme Aufgaben ergeben. Aus späterer Sicht hatte das dann auch einen großen Erneuerungsschub ausgelöst. Für die Erkenntnisfähigen und -bereiten Teile aller Stände, Klassen, Schichten und Berufszweige waren das: Abschaffung der hemmenden feudalen Abhängigkeiten, Ausweitung der Anbaufläche, Entwicklung einer effektiveren Landwirtschaft und Lagerhaltung
Bauern und Adel im Dorf Stuer – Stuer-Archiv , Teil 2, Agrarreform). Notwendig wurden der Ausbau von Verkehrswegen für Schiffe und Kutschen, die Entwicklung von Hygienemaßnahmen und nicht zuletzt von diplomatischen Verfahren.
Insgesamt waren staatliche Maßnahmen und Verhaltensveränderungen möglichst vieler Einzelner gefragt.
Erkannte Defizite hatten nach Lösungen verlangt, kein wütendes Verweigern oder so tun als ob.
Gut dokumentiert ist, dass auch damals dagegen Widerstände von Profiteuren der Verlängerung des Alten organisiert wurden. Das geschah mit vollem Einsatz ihrer angesammelten Möglichkeiten.

Und LEUE persönlich ?
Ihm gelang ein gewisses Maß an persönlicher Freiheit durch Bescheidenheit, zeitweiser Einschränkung oder kreativer Unterlassung. So jedenfalls stellte er es selbst dar.
Um Störanfälligkeit zu vermeiden, richtete er sein Handeln auf weitgehende Eigenversorgung aus.
Er nahm offenbar nicht teil an Spekulationen, an Verschwörungsgeraune von empört Verunsicherrten oder einer Suche nach Sündenböcken.
Unaufgeregt pragmatisch begann er 1806, trotz des beginnenden Krieges und bereits eintreffenden fremden Truppen, den Bau des neuen Pfarrhauses zu organisieren. Falls das nicht einfach ignorant war, zeigte es auch seiner Umgebung entschlossenen, vielleicht ansteckenden Optimismus. Der ist stets eine Frage des Blickwinkels auf die Welt. In der aussichtsreicheren Variante kommt vor dem Entscheiden das Erkennen. LEUE handelte mit Veränderungszuversicht, statt sich beleidigt oder wütend zu beschweren.

Des Pastors selbstgewisse Ansicht zu einer “vernünftigen Wirtschaft“ (1823):
„…denn da der Gutsherr aus dem Korn nichts löhnte, weil er nur wenig zu verkaufen hatte, so konnte er auch den Leuten nichts zu verdienen geben, und so lagen sie ganze Wochen zu Hause und fluchten über Mangel an Verdienst.
Und so bewährte sich auch in diesem Jahr, die von mir schon oft gemachte Bemerkung, daß reiche Erndten und wohlfeile Zeiten ein, möcht ich sagen, ein größeres Uebel für die Menschheit sind, als Mißwuchs und Theuerung bei einer vernünftigen Wirtschaft.“
LEUE war offenbar in der Lage, sich innerhalb dialektisch verstandener Widersprüche bewegen zu können. Bei Lebensmitteln, Waren oder Energie ( Pastor LEUE als „Energiewender“ in:  Pastor LEUE als „Energiewender“ in: Dorf Stuer nach Waldrodungen des Mittelalters > siehe: seinen Vorschlag zum Torfabbau) vermied er einseitige und weitgehende Abhängigkeiten von womöglich weit entfernten Lieferanten. So baute er auch seinen offenbar dringend benötigten Tabak selbst an. Beim Weinanbau gab es aber wohl gerade wenig Verwertbares- wahrscheinlich auch auf dem Südhang des Weinberges in Stuer.

Während der Handels-Sanktionen im Rahmen der Kontinentalsperre der Besatzer hatte er 1812 notiert :
„Englische Fabrikwaren bekamen wir jetzt wenig mehr zu sehen, dagegen aber sächsische und pommersche. Im Grunde genommen gewannen wir mehr dabey, als wir verloren, indem wir genöthigt waren, uns mehr auf unsere Landesprodukte einzuschränken, und an das Entbehren so vieler Luxusartikel gewöhnt wurden. Ich für mein Theil habe das immer behauptet, und daher nie über die damalige Lage der Dinge gemurrt, wie das bei den meisten Bewohnern unseres Vaterlandes der Fall war.“

5. 200 Jahre nach LEUE

War diese Abkanzelung eine Dorfpfarrers vor zweihundert Jahren eine kauzige und längst ungültige Marotte?
Inzwischen saugen wir die in Millionen von Jahren angefallenen Kohlenstoff-Ressourcen gerade in „erdgeschichtlichen Sekunden“ hemmungsarm aus.
Bei diesem Rennen ins Schlaraffenland haben wir uns längst in extrem spezialisierte und weltweite Abhängigkeiten kippen lassen.
Damals hatten sich die „meisten murrenden Bewohners“ des Landes nach LEUEs Beobachtung, offenbar als OPFER von Irgendwas oder -wem verstanden.
Während der „Kleinen Eiszeit“ wurde während der Tamborakrise eine kurzzeitige atmosphärische Abkühlung um 1,5 bis 3 Grad zum Problem. Heute ist es eine direkt messbare und sich stetig selbstverstärkende Erwärmung.
Für einen größeren Teil vernunftorientierter Menschen ist das mitsamt der Verursachung inzwischen als gemeinsam wahrgenommene Wirklichkeit auch erkennbar.

Mit einem Abwehrmechanismus von Wut und schlechter Laune verstärkt jenes Fünftel der Bewohner, das sich heute in wechselnden Parallelwelten bewegt, die „mir-doch-egal“- Clubmitglieder.
Mit unterschiedlich (!) verbreiteter Gier nach mehr von allem, möglichst in der Art des Gewohnten mit seiner trügerischen Übersichtlichkeit, soll es schneller, größer, schwerer und fetter, süßer und bequemer gehen. Und zu jeder Zeit.
Bis es kracht?
In uns und um uns.

Für die sich in Raumzeit krümmenden Galaxien würde das nichts ausmachen.
Noch nicht einmal für die Erde.
Auf der gab es für Millionen von Jahren wesentlich extremere Zustände,
in denen Säugetiere allerdings nicht hätten existieren können, als die paar Grad Temperaturabweichungen zur Zeit LEUES.
Befreit sich die Erde gerade im Sauseschritt von ihrer größten Plage: Von uns?

Oder: Wir schaffen das.

6. Zusammenfassung

Der Stuerer Pfarrer LEUE hatte in den 1810er Jahren im Rahmen seiner Erfahrung ungewöhnlich starke Wetterereignisse registriert.

Er konnte durch Vergleiche mit Zeitungsmeldungen erkennen, daß sie nicht so extrem waren, wie in manchen anderen Gegenden Europas. Für die Ursachen hatte der Geistliche zunächst eigene Erklärungen. Jedenfalls hatte sich eine auffällige Abkühlung auf die Landwirtschaft, einschließlich der Tierhaltung und auf die Erträge ausgewirkt. Die Folge waren Teuerung, Verarmung und soziale Probleme, zumal in dieser Zeit von Krieg und auch von Mangel begünstigten Seuchen. Staatliche Institutionen und die einzelnen Bürger waren gefordert. Das Handlungsspektrum reichte von krisenverstärkendem Beklagen bis zum konstruktiven Anpacken.  Die Ursachen eines solchen Kälteeinbruchs in dieser letzten Phase der sog. „Kleinen Eiszeit“ ist erst hundert Jahre später erkannt worden: Eine Serie von Vulkanausbrüchen hatte ihn mit beträchtlichen Einträgen von Asche in die Atmosphäre ausgelöst. Die dadurch verminderte Sonneneinstrahlung auf die Erdoberfläche hatte im System der Klimaregionen ungleichmäßig verteilte Abkühlungen von 2 bis 4 Grad zur Folge. Von der unmittelbaren Vulkanumgebung abgesehen war das Problem der unwirtlichen Auswirkungen damals jedoch zeitlich begrenzt.

Heute haben wir, was die Richtung der Temperatur betrifft, vor allem aber die Dauerhaftigkeit der sich verengenden Umstände, erkennbar ein entgegengesetztes Problem.

7. Quellen und Literatur

(1) Alle Zitate von Pastor LEUE aus:

Leue, J.G., Aufzeichnungen zwischen 1804 -1824, Schreibmaschinenmanuskript,
Landeskirchliches Archiv Schwerin und Kirchenkreisarchiv Mecklenburg – 10. Chroniken – 01. Pfarr- und Dorfchroniken aus Mecklenburg
Aus der Handschrift übertragen um das Jahr 2000 von Frau Woermann, Wedel.
(Die hoch zu schätzende Fassung bedarf einer Korrektur im Abgleich mit dem Original, u.a. was einige Ortsnamen betrifft.)                                                          Probe von Pastor LEUEs HANDschrift in: Bauern und Adel im Dorf Stuer – Stuer-Archiv

(2) Siegel von Pastor LEUE: G.L., Kelch mit Flügeln, Palmwedeln, Krone?, Dank an Gunnar Schütt

(3) Topographie des Tambora und seiner Umgebung  https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/18/Sumbawa_Topography.png

(4) Übersehen die Klimatologen die vulkanischen Einflüsse auf das Klima? Ist der vulkanische CO2-Ausstoß nicht bedeutender als der des Menschen? | Umweltbundesamt

(5) Behringer, W., Kulturgeschichte des Klimas, Von der Eiszeit zur globalen Erwärmung, München, 2007, S. 218

(6) Wie (5) S. 267

(7) Rekonstruierter vulkanischer Strahlungsantrieb der letzten 2500 Jahre ,Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Volcanic_forcing-reconstructed-de.svg#/media/Datei:Volcanic_forcing-reconstructed-de.svg

(8) Temperaturverlauf der letzten 1000 Jahre, rekonstruiert aus verschiedenen Quelle: Archivhttps://commons.wikimedia.org/wiki/File:1000_Jahr_Temperaturen-Vergleich.png

(9) Deutscher Wetterdienst:  Der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im Jahr 1815 …

oder: https://meteo.plus/sonne-1700.php

(10) Volkszählungsliste vom Oktober 1819 zum Haushalt Leue, Quelle: Ancestry, Zensus Mecklenburg 1819

(11) „Grossherzoglich Mecklenburg-Schwerinisches officielles Wochenblatt“, 1817

Eine Titelseite, „Grossherzoglich Mecklenburg-Schwerinisches officielles Wochenblatt“, 1817

#9 – Grossherzoglich Mecklenburg-Schwerinsches … 1817-18. – Full View | HathiTrust Digital Library

(12) Die Großherzogliche „Verordnung wegen Einrichtung und Anwendung eines Zwangs-Arbeits-Hauses in Güstrow; mit dem Reglement für diese öffentliche Anstalt“ erschien am 3. 2.1817. Sie betraf das Schloß in Güstrow und sollte „der Aufnahme und Beschäftigung solcher Menschen gewidmet sein, welche durch Müßiggang, verbotene Gewerbe und Bettelei der bürgerlichen Gesellschaft beschwerlich oder gefährlich werden, jedoch sonst keine Verbrechen begangen (haben).“

Literatur, die nicht direkt zitiert worden ist;

Behringer, W., Tambora und das Jahr ohne Sommer, München 2015

Wood, G., Vulkanwinter 1816: Die Welt im Schatten des Tambora, Stuttgart, 2015

(Frühjahr 2023)