Titel zu: Epidemien, Einschränkungen, Impfpflicht - Stuer/ Mecklenburg vor 200 Jahren

Epidemien, Einschränkungen, Impfpflicht – Stuer/ Mecklenburg vor 200 Jahren

Zusammenfassung

Im Umgang mit tödlich wirkenden Infektionen, denen Millionen Menschen erlagen, ergab sich im Verlauf des 18.Jahrhunderts durch importiertes Wissen ein Ausweg: Schutzimpfungen, in diesem Fall gegen Pockenviren.
Der Stuerer Pastor LEUE erkannte 1802 sogleich die von den Tücken der Natur befreiende Möglichkeit dieser Methode. Mit dieser ging er beispielgebend für seine Gemeinde voran. Gleichzeitig ordnete Gutsbesitzer von FLOTOW Wachen an, die zur Einhegung der Epidemie zwischen Dörfern Absperrungen überwachen sollten.
Die Regierung der mecklenburgischen Monarchie erließ später Gesetze. Darin wurden die zur Impfung Berechtigten und deren Dokumentationspflicht festgelegt. Eine jährlich zu wiederholende Impfpflicht für alle, einschließlich geforderter Nachweise, wurde 1817 eingeführt.
Zu den Wellen der Pockenepidemien kamen im gesamten Jahrhundert Cholerapandemien hinzu. Auch in Mecklenburg wurde danach schon eine genauere epidemiologische Studie erstellt. Darin wurden Vorschläge zu deren Bekämpfung gemacht, die uns gegenwärtig vertraut klingen.

 

Unsere Vorfahren waren dem Angriff von Viren und Bakterien, sofern ihr Immunsystem nicht darauf vorbereitet war, weitgehend ausgesetzt. So waren zum Beispiel die Ureinwohner Amerikas durch Infektionen ungewohnter Art, die die Kolonisatoren einschleppten, schwer dezimiert worden. Auch militärische Auseinandersetzungen, wie im späteren Krieg der Nord- gegen die Südstaaten in den USA mit importierten Kämpfern, sollen wesentlich dadurch entschieden worden sein. Das in hohem Maß tödliche Problem wurde um so größer, je mehr die Bevölkerung anwuchs, je dichter sie beieinander lebte und je größer das Maß an Austausch durch Fernbeziehungen wurde.
Bei einem Problem, den Pockenepidemien, deren Todesrate erheblich war, gab es um die Wende zum 19. Jahrhundert einen weiteren Fortschritt bei der Vorbeugung.

1. Impfung und Absperrungen bei Pockenepidemien

Ein Zeitzeuge von vor zweihundert Jahren, der Stuerer Pastor Leue, hatte dazu notiert:
„Als eine Merkwürdigkeit von 1802 möchte ich . . . anführen, daß im Sommer dieses Jahres, wo eine tödliche Blatternepidemie hier zu grassieren anfing, durch mein Exempel und Zureden hier der Anfang mit dem Einimpfen der Kuhpocken gemacht wurde, der sehr glücklich ausfiel. (Hvh.Leue) Ich ließ nämlich zweyen von meinen Töchtern zuerst die Kuhpocken durch den derzeit hier in den Gütern angestellten Doctor Bartholomaeus und zwar an eben dem Tage einimpfen, da hier das erste Kind an bösartigen Blattern gestorben war, und obgleich die Leute meinen Rath, sich eben dieses Mittels zur Rettung ihrer Kinder zu bedienen, anfangs höchst verwarfen, so folgten sie meinem Beispiele sehr bald, als sie sahen, daß meine Kinder so gut davongekommen waren, und innerhalb von 4 Wochen waren fast allen Kindern, die die Blattern noch nicht gehabt hatten, in den Kogelschen Gütern die Kuhpocken schon inokuliert.“ (1)

Als vernunftorientierter Mensch konnte Pastor LEUE in seiner Umgebung Vertrauen schaffen, weil er es auch in sich selbst hatte. So ging er entschlossen als Beispiel voran, nahm den Leuten die Angst und brachte das auch mit seinem christlichen Glauben in Einklang. Um Risiken zu vermindern hieß es in Thora/ Altem Testament noch (5.Mose 28,27): „Der HERR wird dich schlagen mit ägyptischem Geschwür, mit Pocken, mit Grind und Krätze, dass du nicht geheilt werden kannst.“ Nach Beobachtung waren als Gottesstrafe so früh wirksame gesundheitsrelevante Regulierungen formuliert worden- ohne Kenntnisse der realen Zusammenhänge von Epidemien.

Pocken wurden durch Viren hervorgerufen. Durch Tröpfcheninfektion verbreiteten sie sich, was sich immer wieder auswuchs zu Epidemien (Auftreten einer ansteckenden Krankheit mit einer großen Zahl gleichzeitig erkrankter Menschen in einem bestimmten begrenzten Verbreitungsgebiet)
oder gar zu Pandemien (weltweite Epidemie).
Viren wirkten seit Millionen von Jahren. Lange bevor sie wirklich genauer entdeckt wurden, nämlich Ende des 19. Jahrhunderts durch LÖFFLER in Berlin, konnten Viruskrankheiten beschrieben und Behandlungsmethoden gegen ihre oft tödliche Wirkung bei Mensch und Tier schrittweise ausprobiert und angewendet werden.
Das traf zuerst auf Impfungen gegen Pockeninfektionen zu, die wegen hoher Sterblichkeit und im Fall des Überlebens allerlei lebenslange Schäden hinterlassend, zu den gefährlichsten zählten. Dadurch konnte die Todesrate von 20-30 Prozent auf 2% gesenkt werden. Auch die entstellenden Narben von Überlebenden konnten so weitgehend vermieden werden.

LEUE nennt die Impfung 1802 noch „Inokulation“, während er gleichzeitig von KUH -pocken schreibt. Dieser Begriff aber wird, jedenfalls heute, verstanden als die Übertragung des Pustelinhalts von Pocken („Blattern“) von einem erkrankten Menschen auf einen anderen. Diese noch ziemlich riskante, aber insgesamt gesehen erfolgreiche Methode war seit Jahrhunderten in China und dem Nahen Osten angewendet worden. Man rechnete dabei mit abgeschwächten Viren, die meist eine Immunreaktion auslösen konnten (Todesrate 2-3%). Erst am Anfang des 18.Jahrhunderts wurde diese Methode von Botschaftsangehörigen aus dem Osmanischen Reich nach England gebracht, wo sie dann von Thomas DIMSDALE angewendet wurde.
Weil die Russen starke Vorbehalte gegen Impfungen hatten, die meist Folge des verbreiteten Aberglaubens waren, überzeugte KATHARINA die Große 1768 ihre Umgebung dadurch, dass sie sich von diesem herbeigeholten englischen Arzt impfen ließ. Die in Stettin geborene russische Kaiserin erkrankte anschließend und genas. Erst danach ließ sie ihren Sohn impfen. In ihrer engen Umgebung hatte es Sterbefälle gegeben und auch ihr Ehemann Peter III. war als Kind an Pocken erkrankt, mit lebenslangen gesundheitlichen Folgen neben seiner Pockennarbigkeit.
Diese erste Methode war dann später in England verboten worden.

Als nächsten Schritt hatte der englische Landarzt Edward JENNER (1749 – 1823) die Impfung mit Kuhpocken praktiziert, bei deren Anwendung er beobachtet hatte, dass die sich nicht tödlich auswirken (lat. vacca, die Kuh> „Vakzination“).
Aus den Ergebnissen seiner Impfung erkannte er, dass durch diese von ihm erkannte Kreuzimmunität die gleiche Wirkung erreicht werden konnte, wie mit einer durchgestandenen Krankheit. Zügig verbreitete sich die Methode weltweit, die JENNER bewußt nicht patentieren ließ. Er wurde hoch geehrt und dekoriert. NAPOLEON ließ seine Soldaten sogleich nach dieser Methode impfen.

Edward Jenner bei der ersten Impfung gegen Pocken, die er am 14. Mai 1796 durchführt, Gemälde von Ernest Board (1877-1934) (Quelle: images.wellcome.ac.uk)

Gemälde von Ernest Board: Edward Jenner bei der ersten Impfung gegen Pocken 1796 (2)

JENNER erlebte aber auch Widerstand, u.a. von prominenten medizinischen Konkurrenten. Impfgegner, mühten sich, entgegen der erkennbaren realen Wirksamkeit, zum Teil aus religiös begründeten Motiven, seine Methode lächerlich zu machen. Ungeachtet dessen setzte sich das Verfahren der Ritzung mit einer Lanzette unter die Haut überall durch und wurde weitgehend sicher.
Aber auch dabei konnten immerhin noch allerlei Nebeninfektionen vorkommen. Im Rahmen der damals möglichen hygienischen Umstände, konnten auch schwere Erkrankungen folgen. Solche mit gutem Grund in Kauf genommenen Nebenwirkungen, so auch ein bis zwei Todesfälle pro einer Million Geimpfter, waren im Vergleich zu derzeitigen Covid 19-Impfungen weit dramatischer.

Aber LEUE hatte Sinn für plausible Zusammenhänge, bei denen er Wesentliches von Unwesentlichem scheiden konnte, zum Beispiel empörtes destruktives Geschwätz oder schlechtlauniges Herumnörgeln.

Weiter Pastor LEUE später, im Jahr 1824: „Im Herbst dieses Jahres brachen die Pocken zum dritten Mal während meiner Amtsführung in Priborn aus, woher sie von Buddenhagen geholt worden waren, und bei dieser Gelegenheit bewährte sich dort die schützende Kraft der Inkubation“ (das Ausbrüten, Züchten) „der Schutzblattern, insofern wenigstens, als sie die meisten Pokkenpatienten vor dem Tod schützte. Denn obgleich von den damit geimpften Kindern und Leuten ,die natürliche Blattern doch bekamen, und darunter auch einige von meinen Konfirmanden, die sich eben erst hatten impfen lassen, so starb doch von diesen allen nicht ein einziges, und es wurden nur im Ganzen 4 Personen davon hingerafft, nämlich ein Maurergeselle von 30 Jahren, und 3 Kinder, die freilich gar nicht geimpft waren.“ (1)

Bemerkenswert ist der wissenschaftlich orientierte Verstand des Pfarrers von Stuer. Er war nicht befangen in einem Denksystem aus starren Gegensätzen; wie zum Beispiel wirksam oder unwirksam, richtig oder falsch, Regel oder Ausnahme.
Er erkannte in disziplinierter Gelassenheit Tendenzen, statistisch erkennbare Vorgänge und verstand das praktisch-nüchterne Versuch-Irrtum-Prinzip von Entwicklungen.
Obwohl damals Impfungen noch nicht Millionen Mal ausprobiert waren, wie inzwischen unterschiedliche zu verschiedenen Infektionen und wie derzeit gerade die Covid 19-Impfstoffe in den Wellen einer Pandemie. Deren wissenschaftlich bis ins Kleinste weltweit beobachteten mehrfachen Impfungen in kurzem Zeitrahmen, stellen eine historische Einmaligkeit dar.
Obwohl LEUE Theologe war, beobachtete er aufmerksam die Verhältnisse und richtete seine Weltsicht und die anderer, nicht umgekehrt nach einem festen Bilde oder Vorurteil ein.
Als Geistlicher hatte er auf den Wert des Vertrauens der Menschen auf rücksichtsvolles Sozialverhalten untereinander gesetzt. Für eine trotzig vorgetragene selbstbezogene Freiheitsbehauptung war bei ihm kein Platz.
Auch religiöser Extremismus, mit dem eine Seuche als Vorbote einer Apokalypse oder auch als Strafe Gottes zu betrachten möglich ist und Impfung als frevelhafter Eingriff des Menschen in Gottes Schöpfung, lag ihm fern.
Er wußte, dass jede medizinische Maßnahme, jede Operation, jede Tablettengabe ein Eingriff in Körper und Seele eines Menschen darstellt. Auch dass dies in jedem Fall mit leichten bis seltener schwereren Nebenwirkungen einhergehen kann und meist nicht für die Ewigkeit anhält.
LEUE entschied sich so, obwohl er früher infolge einer Krankheit, bei der die Ärzte ihn „aufgegeben und eine Besserung für unmöglich hielten“ als „traurige Folge“ eine andauernde „schreckliche Hypochondrie“ bei sich festgestellt hatte. „Aber so wie alles Übel durch Gottes weise Einrichtung und Leitung auch die Quelle manches Guten wird, so war es auch jene schwere Krankheit für“ ihn. Bei täglichen Spaziergängen „in freiem Felde und Genuß der schönen Natur“ entstand seine Selbsterkenntnis: „Überhaupt ist Studium der Natur meine Lieblingsbeschäftigung, sowie ich denn auch Naturwissenschaft für die erste und wichtigste unter allen Arten menschlicher Erkenntnisse halte.“ ( (1) Hervorhebung d. LEUE)

Absperrung
Weiter LEUE, 1924:
„Nach Stuer kamen die Blattern diesmal nicht, weil der Herr Major v. Flotow allen Verkehr mit Priborn streng verboten und einen eigenen Wächter bei Demzin hingestellt hatte, der jeden Priborner zurückweisen mußte.
Allein ob das Zurückweisen wohl nicht viel helfen mochte, indem die Priborner über die Mühlen und auf anderen Wegen nach Stuer hinein kommen konnten, so mag doch wohl das Wegbleiben der Stuerschen Leute von Priborn dazu am meisten beigetragen haben, daß die Pocken nicht von dort hierher geschleppt wurden.
Übrigens blieb fast kein Land in diesem und in den beiden folgenden Jahren von dieser Pest verschont, besonders starben in der Schweiz viele Leute daran.“ (1)

Wir könnten uns wundern, dass der Grundherr damals so handelte, oder es gar für einen Vorgriff auf eine weitgehend naturwissenschaftlich orientierte Moderne halten. Dabei ist lange bekannt, dass verschieden komplex organisierte Lebewesen (Bienen, Ameisen,…) schon ewig Kranke oder infizierte Gruppenmitglieder isolieren, andernfalls diese sich selbst zeitweilig oder endgültig absondern.

Mecklenburgische Einreiseabwehr im Jahr 2020, südwestlich von Wendisch-Priborn, Foto: U.Schmidt

Mecklenburgische Einreiseabwehr im Jahr 2020, südwestlich von Wendisch-Priborn (3)

Durch konsequente Anwendung gelten die Pocken heute seit 1972 als weltweit ausgerottet. Insofern profitieren wir heute von den Abermillionen Seuchenopfern der vergangenen Jahrhunderte auf allen Erdteilen. Noch im 20. Jahrhundert sollen 500 Millionen Menschen an Pockeninfektionen gestorben sein. Die hoffentlich endgültige weltweite Ausrottung des Pockenvirus durch Impfung zählt zu den grandiosen Erfolgen einer wissenschaftlich fundierten Medizin.
In Bayern war die Impfpflicht gegen Pocken weltweit erstmalig schon 1807 eingeführt worden. Der Stuerer Pastor LEUE war also auf der Höhe der Zeit.
Die seit 1874 in Deutschland unter BISMARCK eingeführte Impfpflicht gegen die Pockeninfektion lief 1976 aus. Diese hatte sich allerdings, anders als zunächst geplant, auf Kinder bezogen. Bei solchen Entscheidungen ist die Dauer der Wirksamkeit entscheidend, also ob und wieviel Wiederholungen für anhaltenden Schutz nötig wären.

Maßnahmen der Regierung
Der Herzog von Mecklenburg- Schwerin
hatte 1803 bereits eine Verordnung erlassen, die er 1815 noch einmal bekräftigt hatte:
Erfordern „würde es die Wachsamkeit und Sorgfalt, welche der Staat den mehr oder minder wohltätigen Wirkungen der Schutzblattern schuldig ist, daß deren Verbreitung und Anwendung nur mit der äußersten Behutsamkeit vorgenommen, sogleich nicht jedem unberufenen Empiriker anvertrauet werde.“
Damit sollte sichergestellt werden, daß nur den „approbierten Ärzten erlaubt sein sollte, die Kuhpocken einzuimpfen, wozu sie sodann die Materie mit der gewissenhaftesten Vorsicht . . .
selbst aufnehmen . . . , über ihr Verfahren bei der Vaccination aber und deren beobachteten Erfolg an ihren Impfungen zu ihrer eigenen Rechtfertigung ein genaues Tagebuch halten,. . .“ (4)
Wundärzte und Barbiere, die solches dennoch praktizieren könnten, würden dafür bestraft.

1817, 22.Februar:
„Grossherzoglich Mecklenburg-Schwerinisches officielles Wochenblatt“,22.3.1817

wo sie von den Obrigkeiten und Aerzten mit gehöriger Tätigkeit betrieben ist, die willigste Aufnahme befunden; auch läßt sich nicht daran zweifeln, daß jedermann sich immer geneigter beweisen wird, mit Besiegung alter Vorurteile, eine Wohltat zu benutzen, deren heilsame Erfolge nicht länger verkannt werden dürfen.“ (4)

Die herzogliche Regierung hatte aber auch erkannt, dass die Persönlichkeitsstrukturen eines kleinen Teils der Untertanen rücksichtsvollem Sozialverhalten eher im Wege stehen. Deshalb sollte
eine neue Gefahr „durch irgend einige Sorglosigkeit“ vermieden werden, und ordnete an:

„daß 1) ein für allemal jedes Jahr, spätestens vor Ablauf des Juny=Monats, eine allgemeine Impfung der Schutz=Blattern, . . . vorgenommen, auch zu dem Ende, so wie zur Erkundigung und Anzeichnung der noch nicht Geimpften ein besonderer Umgang obrigkeitlich veranstaltet werden;
2) vom 1sten Julius d.J. an, niemand, ohne Unterschiede des Alters oder Standes, zur Erlernung eines Handwerk oder Betriebes, noch zu irgend einer Bedienung oder Beförderung, noch zur Confirmation oder Copulation, gelassen werden soll, bevor er nicht den Schein eines approbierten Arztes dahin:
daß er Menschen=Blattern gehabt, oder sich der Schutzpocken= Impfung unterworfen habe, produziert haben wird.“ (4)

Oder anders formuliert:

 "Herzoglich-Mecklenburg Schwerinischer Staats=Kalender“, 1818
Staatskalender 1818 (5)

Am 6.Juni 1817 wurde vom Landesherrn noch einmal klargestellt:
„ . . ., daß jedem die Art der Beweisführung, daß er die Blattern gehabt hat, überlassen sein soll; wenn aber Zweifel dabei übrig bleiben, und ein Ärztliches Attest nicht zu haben ist, ein solcher sich annoch einer neuen Einimpfung unterziehen, und deren Erfolg bescheinigen muß.“ (4)

Von Interesse wäre, inwieweit diese gesetzliche Anordnung alle betreffend, praktisch auch vollzogen werden konnte, und mit welchen Mitteln.

Auswanderung
Der Schutz vor ansteckenden Krankheiten spielte auch bei der im 19. Jahrhundert anschwellenden Auswanderung eine große Rolle. Gesundheitskontrollen vor den europäischen Hafenstädten als auch bei der Ankunft, zum Beispiel in New York, sollten Epidemien begrenzen. Die Gefahr bei einer Atlantiküberfahrt zu sterben, lag dennoch bei etwa ein Prozent. Für Säuglinge in schlecht gelüfteten Zwischendecks soll die Sterberate 25 % betragen haben. (Aus Stuer in die Neue Welt – Stuer-Archiv)

Seuchentreiber
Beim Ausbruch von Seuchen, wie auch bei ihrer Wirkung, ergänzen sich mehrere Einflüsse. In dem hier besprochenen engeren Zeitraum wirkten sich politische Ereignisse europaweit auf nahezu Jeden aus. Mit der französischen Eroberung Europas gab es während der Kriegsereignisse Rekrutierungen, Truppenbewegungen, Einquartierungen, Reparationsforderungen, Handelssperren, aber auch Reformen. Danach fand eine Neuordnung Deutschlands und Mitteleuropas statt, die wiederum erhebliche politische Turbulenzen mit sich brachte.
Es liegt aber auch nahe, die verschiedenen Wellen der Pandemien im 19. Jahrhundert, voran die von Cholerainfektionen, auch als Auswirkung von Hungerperioden zu betrachten. Die wiederum waren das Ergebnis von Missernten, die in Zyklen vom klimabedingten Wetter abhingen.
So waren Anfang des Jahrhunderts mehrere Vulkane, vor allem in Südostasien, ausgebrochen. Die stärkste Explosion dieser Art der vergangenen 10 000 Jahre geschah am 10.April 1815. Große Mengen von Ascheteilchen des Tambora-Vulkans, die sich als Aerosole in der Stratosphäre verteilt hatten, führten danach weltweit zu einer Abkühlung um 3-4 Grad. Die Folgen dieser Kälteperiode für Landwirtschaft und Gesellschaften war in Europa unterschiedlich, zum Teil verheerend.
Wie sich das auf die Gegend um Stuer ausgewirkt hatte, wird ein eigener Beitrag darlegen, der sich dabei auf systematische Beobachtungen von Pastor LEUE stützt. Er hatte im ersten Vierteljahrhundert Wetter- und Ernteverhältnisse aufgezeichnet. Das tat er aus eigenem Interesse für seine Selbstversorgung, einschließlich der Marktlage der Lebensmittelpreise.

Zu dieser Zeit hatte sich, wie oben beschrieben, in Mecklenburg zunächst aber noch das Pockenvirus mehrfach verbreitet.

2. Cholerapandemie

Derweil hatte sich aber bereits eine besonders aggressive Variante des Cholerabakteriums gezeigt. Hervorgerufen durch extreme Wetterlagen nach dem Ausbruch des Tambora-Vulkans, traf es zuerst in Indien auf eine geschwächte Bevölkerung mit geringen Abwehrkräften. Von dort aus verbreitete sich die Seuche, die in der Folge zu Millionen Opfern führte und in Wellen immer wieder auflebte, nach Osten und Westen aus. Durch das damalige globale Handelsnetz und koloniale Truppenbewegungen befördert, entwickelte sich so eine Pandemie dieses Bakteriums. Das geschah damals allerdings noch langsamer als die aktuelle eines Virus. In St.Petersburg war die Cholera 1826 angekommen und gelangte dann über die Ostsee und ihre Hafenstädte nach Preußen. Auch das geschah in verschieden starken Wellen.

Abbildung aus: Behringer,W., Kulturgeschichte des Klimas, C.H. Beck, München 2007, Abb. 35

Abb.: Choleraverbreitung aus: „Kulturgeschichte des Klimas“ (6)

Erst 1854 wurde das Bakterium Vibrio cholera, das die Cholera auslöst, schließlich von Filippo PACINI entdeckt.
Dies ruft eine von Mensch zu Mensch hoch ansteckende Magen-Darm Infektion hervor, die innerhalb weniger Stunden zum Tod führen kann, wenn keine Rehydratationslösung zugeführt wird. Übertragen werden kann es durch verunreinigtes Wasser oder ebensolche Nahrung. Impfungen, einschließlich Auffrischungen, helfen dagegen erstmalig seit 1884.
Cholera kommt auch heute noch in Ländern mit primitiven Sanitäranlagen vor, wo es meist auch an sauberem Trinkwasser mangelt. Das sind meistens Katastrophen- und Kriegsgebiete mit zusammengebrochener Infrastruktur. Eine Schluck-Impfung zur Abwehr hat eine zeitbedingte (1/2- 2 Jahre) Schutzrate bis zu 85%.

„1859 trat auch in Malchow wie in anderen Städten die Cholera sehr heftig auf. Die Flotowschen Güter blieben durch Absperrung von der bösen Krankheit verschont.“ (7)
Dies schrieb der Pastor von Satow, Martin HÜBENER nach der Durchsicht von Akten aus Kogel und Güstrow vor dem ersten Weltkrieg in die Pfarrchronik.

Seuchen und Epidemien haben verschiedene Erreger, Ansteckungswege und Auswirkungen. Die medizinische Forschung entwickelte Schritt für Schritt ebenso unterschiedliche Gegenmaßnahmen. Weil hier auf die Art der dabei früh aufgetretenen Probleme, Lösungswege und Begleiterscheinungen hingewiesen werden soll, dürfte eine Veröffentlichung in Auswertung der o.g. Choleraepidemie in Mecklenburg interessant sein.

Ackermann, Th., Die Choleraepidemie des Jahres 1859 im Grossherzogthum Mecklenburg-Schwerin - Theodor Ackermann - Google Books

Abb.: Titel „Die Choleraepidemie“ (8)
Heute würde man diese Auswertung von Prof. ACKERMANN als epidemiologische Studie bezeichnen, die mit Vorschlägen zur Einhegung verbunden war:

Normaler wissenschaftlicher Streit
Während der Choleraerreger also gerade entdeckt war, lief noch der wissenschaftliche Streit über Verbreitungsbedingungen und mögliche Gegenmaßnahmen.
Der Autor wies darauf hin, dass die Verbreitung dieser Seuche „von Aerzten und Laien aufs Eifrigste discutiert und bald direkt verneinend, bald direct bejahend, hin und wieder auch in vermittelnder Weise beantwortet worden“ sei. Wissenschaft wurde damals bereits als lernende revisionsbereite Praxis verstanden. Trotz scharfsinniger Untersuchungen und überzeugender Darstellungen wichtiger Forscher (PETTENKOFER und GRIESINGER) fänden sich dennoch erfahrene Praktiker, die die „Verschleppbarkeit der Seuche“ und ihre „Verbreitung durch den menschlichen Verkehr in Abrede“ stellen würden. (8)

Abstand, durch Verkehrsbeschränkungen
Zur „Beseitigung zweifelhafter Meinungen“ stellte ACKERMANN aber fest: „ Die während der letzten Epidemie in Mecklenburg zur Beantwortung dieser Frage gesammelten Thatsachen sind außerordentlich zahlreich und sprechen zum Theil mit so überzeugender Klarheit für die Propagationsfähigkeit der Seuche durch den Verkehr,…“ Wenn aber der „menschliche Verkehr“ der einzige, mindestens häufigste Verbreitungsbeschleuniger sei, entstehe die wichtige „Frage nach der Möglichkeit eines wirksamen Schutzes durch Beschränkung oder vollständige Aufhebung des Verkehrs,…“
Bei der „Frage nach der Zulässigkeit oder Notwendigkeit einer Absperrung . . . bedarf es dann zunächst einer Entscheidung darüber, wie weit die Isolierung sich erstrecken, ob sie nur auf den Kranken und dessen nächste Umgebung, oder ob sie auf den ganzen Ort ausgedehnt werden soll.“ (8)

Verhältnismäßigkeit
„Zwangsmaßnahmen werden in einem offenen ländliche Orte schwerlich in Anwendung zu bringen sein. Wollte man sich selbst entschließen, zur Verhinderung des Verkehrs militärische Kräfte zu verwenden, so würde man damit auch der Gefahr in die Hände fallen, gerade durch diese Herbeiziehung einer größeren Menschenzahl der Verbreitung der Krankheit neue Nahrung zu geben,. . . Die Verhängung leichterer Polizeistrafen würde daher wohl das einzige Mittel sein, den Verkehr mit anderen Orten einigermaßen zu zügeln. Indem gewährt eine solche Maßregel selbstverständlich keine Sicherheit und verhindert namentlich nicht die unter dem Schutze des nächtlichen Dunkels auch während der Epidemie von 1859 häufig genug in Ausführung gebrachten Übertretungen derartiger Verbote. Endlich ist denn doch auch nicht zu verkennen, daß ein Gesetz, welches jeden Bewohner eines infizierte Ortes zwingt, bis zum Ende der Epidemie in ihm auszuharren, eine Beschränkung der persönlichen Freiheit ausübt, welche namentlich für furchtsame Seelen unerträglich und selbst gefährlich werden kann.

Ackermann, Th., Die Choleraepidemie des Jahres 1859 im Grossherzogthum Mecklenburg-Schwerin - Theodor Ackermann - Google Books
(8)S.211

Im Anschluß empfahl der Autor die von ihm beobachtete erfolgreiche Methode, dass sich Orte ohne Krankheitsopfer selbst gegen Ausbruchsorte isolieren, wie es oben der Satower Pastor auch von den Flotowschen Gütern berichtet hatte. Eine vorbeugende Impfmöglichkeit gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

 

Sozial- und Lebensverhältnisse
Professor Ackermann hatte neben der erfassten Dauer der Epidemien (5-21 Tage), die Verbreitungsorte, die in Städten Mecklenburgs besonders betroffenen Straßenzüge, Wasser- und Abwassergegebenheiten, die Todesfälle und dabei die soziale Zuordnung betrachtet.

Statistik von 1860,Ackermann, Th., Die Choleraepidemie des Jahres 1859 im Grossherzogthum Mecklenburg-Schwerin - Theodor Ackermann - Google Books

Abb.: Statistik von 1860, Ackermann (8)

Das deutet auf die allgemeine Erfahrung hin, dass Epidemien und Pandemien zwar im Prinzip Jeden treffen können, die sehr verschiedenen Erreger, also Viren oder Bakterien, tendenziell dabei aber für sie mehr oder weniger günstige Bedingungen vorfinden. Neben dem Gesundheitszustand der Individuen und ihrer Immunabwehr, stellte sich auch damals schon, hier im Zusammenhang mit der Cholera, heraus:
„Das dichte Zusammenwohnen vieler Menschen in kleinen Lokalitäten, die Anhäufung von vegetabilischen und thierischen Zersetzungsstoffen, eine feuchte und tiefe Lage der Wohnungen sind Bedingungen, von welchen neben einer großen Zahl anderer, individueller Einflüsse vorzugsweise die ärmere Klasse der Bevölkerung getroffen wird.“
So stellte er u.a. bei den in Plau und Malchow vorgekommenen Erkrankungen fest, dass diese in Straßenzügen sich gehäuft hätten, die „eng bebauet“ und „kleine, dürftige und dicht bevölkerte Wohnungen“ enthielten.(8)

Auszug,Inhalt: Ackermann, Th., Die Choleraepidemie des Jahres 1859 im Grossherzogthum Mecklenburg-Schwerin - Theodor Ackermann - Google Books

Auszug, Inhalt: Ackermann, Th., Die Choleraepidemie des Jahres 1859 im Grossherzogthum Mecklenburg-Schwerin

Wirksamkeitsparadox
Im Zusammenhang mit Schutzmaßnahmen stellte der Professor fest: „Und was es heißt, die Bevölkerung, besonders den ungebildeten Theil derselben, zu der genauen Befolgung von Maßregeln zu bewegen, deren Nutzen nicht als ein unmittelbarer und handgreiflicher deutlich in die Augen springt, das kann nur der Arzt beurteilen, welchem die Trägheit und Indifferenz des Volkes in solchen Dingen aus eigener Anschauung bekannt geworden ist.“ (8) S.219
Das deutete bereits damals darauf hin, dass versucht wurde, das Ergebnis des Erfolgs vorbeugender Maßnahmen zur Verhinderung von Ansteckungen als Beweis für deren fehlende Notwendigkeit, umzudeuten. Propagandisten mit einem beanspruchten Sonderstatus von „Wissenden“ kommen auf andere Weise  manchmal vom Baum nicht wieder herunter. Langsame oder leise Entwicklungen können bei fehlendem Vermögen zur Abstraktion auch leicht übersehen oder abgestritten werden.

„ Das Gerücht“, Weber, A.P., 1943/ 1953, www.weber-museum.de

Abb.: „Das Gerücht“ von A.Paul Weber (9)

Was die von ACKERMANN festgestellte Art von „Unbildung“ und damit nicht vorhandene Vorstellungskraft aber betrifft, konnte sie also schon damals in allen Schichten der Gesellschaft erwartet werden. Die Unschärfe des Begriffs verbaut die Erfahrung, dass sehr viele Menschen mit weniger formaler „Bildung“ oft weitgehend vernunftorientiert sind, was in diesem Fall auf praktische Vernunft hinweisen dürfte.

Scharlatane
„Das Treiben der Schwindler und Scharlatane, welche zur Zeit von Epidemien eine günstige Gelegenheit für den einträglichen Verkauf indifferenter oder positiv schädlicher Geheimmittel finden, muß mit größter Strenge überwacht und bestraft werden, weil es im besten Falle den abergläubischen Anhängern solcher Mittel ein schädliches Gefühl der Sicherheit verleiht und damit dem Arzt die Gelegenheit beschränkt, im ersten Beginn der Krankheit, wo die Aussicht auf einen günstigen Erfolg am größten ist, therapeutisch einzuschreiten.“ (8)

Expertenrat
Ackermann schlug vor:
Zur Einleitung und Durchführung aller der Maßregeln, welche beim Herannahen oder während der Dauer der Epidemien eine Hoffnung auf Schutz und Erleichterung gewähren, müssen Commissionen ins Leben treten, die aus Aerzten, Magistratspersonen und Bürgern zusammengesetzt sind. Weil viele Köche den Brei verderben, so ist es notwendig, daß die Mitgliederzahl dieser Commissionen eine nicht zu große sei.“ (8) S.221

ACKERMANN hatte errechnet, daß diese Choleraepidemie in der üblich kurzen Dauer von 5 bis 21 Tagen, in von ihm in Mecklenburg erfassten Orten mit insgesamt 107 844 Einwohnern, 4000 Todesfälle hinterlassen hatte. Die meisten in den größeren Städten, in kleineren Orten allerdings mit Verlustraten von 5 bis fast 40%

3. Lernen aus der Krise

Sowohl die Epidemien und Pandemien im 19. Jahrhundert, als auch die parallelen Klima- und damit einhergehenden Ernährungskrisen, hatten andererseits weitreichende positive Anpassungsleistungen zur Folge.

Durch konstruktive Analysen aktiver und kreativer Menschen wurden im Bereich der Hygiene in Städten Trinkwasser- und Abwassersysteme erdacht und installiert.
Mit erhöhtem Druck wurden in der Medizin die Erreger von Seuchen erkannt und Gegenmittel, zum Teil Schutzimpfungen, entwickelt. Indem wir heute von den vielen Opfern der Vorigen profitieren, wurde uns damit ein wesentliches Stück Freiheit gegenüber den Tücken der Natur gegeben, so im Bereich der Impfungen bei Diphtherie, Masern, Kinderlähmung oder Wundstarrkrampf.
Die Erfindung der medizinischen Spritze um 1850 beförderte die Hygiene dabei erheblich.
Auch in der Landwirtschaft wurden Anbaumethoden, die Wirtschaftsweise und die Vorratshaltung im 19.JH. mit Nachdruck reformiert und propagiert.(Bauern und Adel im Dorf Stuer – Stuer-Archiv)

 

Die Art und Bekömmlichkeit der jeweiligen Lebensmittelproduktion, der Ernährungsweise und der Tierhaltung geraten nach Krisen mit solchen komplexen Zusammenhängen folgerichtig auf den Prüfstand.
Wie immer wieder und überall, gelang das nur gegen Widerstand von Profiteuren am Althergebrachten, aber auch von Furchtsamen, die ihre Sicherheit stets ausschließlich am Gewohnten fest machen.
Pastor LEUE jedenfalls hielt daran nicht fest. Er hatte zügig erkannt, dass leicht übertragbare Varianten von Erregern letztendlich Jeden erreichen würden. Und dass solche Infektionen ohne eingespielte Abwehr oder Impfung sehr folgenreich, in erheblichem Ausmaß auch tödlich, sein würden.
Nicht zuletzt auch bei Bewohnern von zauberhaften oder politischen Parallelwirklichkeiten oder von Ichlingsfraktionen.

Januar 2022,

während die Ministerpräsidentin des Landes mit Morddrohung behelligt wird.

(„Was wir aus den dunklen Zeiten machen, zeigt, wer wir sind.“ Amanda Gorman)

4. Quellen

(1) Leue, J.G., Aufzeichnungen zwischen 1800 -1824, Schreibmaschinenmanuskript, Probe von Pastor LEUEs HANDschrift in: Bauern und Adel im Dorf Stuer

(2) Edward Jenner bei der ersten Impfung gegen Pocken, die er bei dem achtjährigen James Phipps am 14. Mai 1796 durchführt, Gemälde von Ernest Board (1877-1934) (Quelle: images.wellcome.ac.uk)

3) Mecklenburgische Einreiseabwehr im Jahr 2020, südwestlich von Wendisch-Priborn, Foto: U.Schmidt

(4) „Grossherzoglich Mecklenburg-Schwerinisches officielles Wochenblatt“, 1817

(5) „Herzoglich-Mecklenburg Schwerinischer Staats=Kalender“, 1818

(6) Abbildung aus: Behringer,W., Kulturgeschichte des Klimas, C.H. Beck, München 2007, Abb. 35

(7) Hübener, M.,Pfarrchronik Satow, vor 1914 geschrieben, Schreibmaschinenmanuskript von Pfarrer Kruse, Stuer

(8) Ackermann, Th., Die Choleraepidemie des Jahres 1859 im Grossherzogthum Mecklenburg-Schwerin – Theodor Ackermann – Google Books

(9) „ Das Gerücht“, Weber, A.P., 1943/ 1953, www.weber-museum.de